ESSAY

von Claudia Seidl und Dr. Felix Loy

Die vielen Jahre, in denen sich Matthias Kendlinger der Tanzmusik gewidmet hat (1981 bis 1994), haben sicher große Spuren in seinem Werk hinterlassen; doch statt diesen leichten Tonfall beizubehalten, wendet er sich in seinem symphonischen Schaffen tiefgründigeren Themen zu wie in der ersten Symphonie Manipulation und in der dritten Symphonie Menschenrechte. Dafür verwendet er insbesondere Molltonarten. 

„Den Tiefgang und die slawische Seele habe ich besonders erlebt, als ich meine Frau Larissa kennengelernt habe, die in Taschkent (Usbekistan) geboren ist. Das Melancholische und die tiefgründigen Gespräche haben mich beeindruckt. Und ich liebe Kontraste.“ 

Kendlinger über sein Klavierkonzert Larissa

Kontrastreich ist auch das Violinkonzert Galaxy in a-Moll, das schon zu Beginn beinahe galaktisches Laufwerk über dahinschreitende Orchesterklänge spannt. Es bildet sich ein Sog des Vorwärtsdrängens, den nicht einmal die in den langsameren Abschnitten (Meno mosso) besonders dicht gebundene und gedrängte Melodik zu durchbrechen vermag. Beinahe unbekümmert, jedenfalls etwas unorthodox, endet der erste Satz – so, als sollte die lyrisch-melancholische Geschichte nun erzählt werden. 

Schwebende Zustände

Durch die Aneinanderreihung von Motiven oder leicht variierten Patterns ergeben sich im ganzen Konzert immer wieder einschneidende Übergangssituationen. Kendlinger verlässt dabei nie den Boden der tonalen Musik und schafft es dennoch, geradezu schwebende Zustände zu erwirken. Mag sich mancher Zuhörer während der oft fermatierten Schlussnote eines Abschnitts schon mit neuer Aufmerksamkeit auf die folgenden Motive freuen, so kann es beim wiederholten Hören auch passieren, dass sich im inneren Ohr wie von selbst Brücken zwischen den Abschnitten bilden.Mit einer ruhigen Kantilene in a-Moll schwingt sich die Solovioline langsam in die Lüfte des zweiten Satzes, wo sie von den Streichern und Holzbläsern vorsichtig getragen wird. Ein kurzes Tutti (das eigentlich nur noch Horn und Schlagwerk als zusätzliche Instrumente aufnimmt) bestätigt zwar die Violine, doch die harmonische Rückung nach h-Moll kommt wieder erfrischend unerwartet, fast so als wollte das Tutti die Geschichte nochmals mit seinen Augen erzählen – die es eben etwas anders sehen. 

Ausgeprägte Dialoge

Ausgeprägte Dialoge entfalten sich insbesondere im Schlusssatz, wo sich Flöte und Klarinette in die Erzählung der Violine einklinken. Bis hin zur Eskalation, die durch einen abrupten Unisonoklang auf dem Grundton a
abgewendet wird. Der darauffolgende Abschnitt „Kinderaugen“ im Dreiermetrum blickt mit provokanter Schlichtheit auf die Ausgangsproblematik und wirkt so ausgleichend und besänftigend. Wie eine Reise in längst vergangene Zeiten, die Auswirkung auf das jetzige Tun haben, schwebt dieses Larghetto über den Köpfen. Mit neuer Kraft aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen – „Kinderaugen lügen nicht“ – geht es hinaus in das fulminante Finale. 

Sowohl Galaxy als auch die 2. Symphonie stehen beispielhaft für Kendlingers künstlerisches Leben, für sein musikalisches Schaffen, das sowohl Völker und Länder verbinden will als auch unterschiedliche „Musikwelten“ immer wieder miteinander in Beziehung bringt, und ganz besonders die der Volksmusik, Klassik und Filmmusik. Ein anderes großes Thema ist auch die sozialkritische Auseinandersetzung.

Matthias Kendlinger thematisiert in seinen Kompositionen immer wieder diverse Variationen von Brückenbauten in seiner ganz eigenen musikalischen Sprache. Seiner 2. Symphonie setzt er ganz bewusst den Beinamen „Österreich-Ukrainische“ auf den Titel. Er verbindet in seinem Opus 9 Musik dieser Länder, die ihm beide in ihrer Art Heimat bieten, mit der ambitioniertesten Kunstgattung der klassischen Musik. 

Losgelöst von den Erwartungen der avantgardistischen Klassikszene in der Tradition nach Schönberg oder Stockhausen beruft er sich vielmehr auf die tonalen Kompositionen von Mozart, Wagner oder J. Williams und will damit die Zuhörer direkt erreichen. So beginnt seine 2. Symphonie in cis-Moll mit prägnanten Röhrenglockenschlägen, die mit zweimal rasant anschwellendem Orchestertutti den farbenreichen Vorhang für diese bilaterale Vorstellung öffnen. Mahlers 5. Symphonie – ebenfalls in der seltenen Tonart cis-Moll – beginnt mit einem Kondukt, der an den Generalmarsch der österreichisch-ungarischen Armee erinnert. Kendlingers Beginn mit einem Trauermarsch löst solche Assoziationen aus und evoziert damit eine weitere Facette des Grenzgangs zwischen den Genres. Die Präsentation des ersten Themas wandert durch zahlreiche Stimmen und Stimmkombinationen, wobei der Komponist ein besonderes Händchen für die Instrumentierung seiner oft dichten Orchestersätze zeigt. Wie bei der Filmmusik formt er seine deutlichen Motive mehr durch rhythmische Prägnanz als durch melodische Verkünstelung. 

Lyrisch-düstere Klangwelten

Auch das zweite Thema wird mit expressiven Streicherklängen vorgestellt, lässt aber bereits erahnen, dass sich daraus im Verlauf auch lyrisch-düstere Klangwelten gestalten, und variiert vorsichtig in diverse Stimmungen. Mit tiefem Blech und Pauken schreitet der zweite Satz im 6/4-Metrum unaufhaltsam nach unten – gar ins Verderben. Daraus erlösend treten die hohen Holzbläser in einen lichten Dialog, erst sphärisch-fern, dann realer in majestätischen, aneinandergereihten Tanzabschnitten, die sich in einen regelrechten Laufschritt verwandeln. 

Doch nicht nur scheinbare Erlösung, auch tiefe Brüche scheut Kendlinger nicht. Neue musikalische Gedanken, die dem vorigen völlig entgegenzustehen scheinen, werden ausgebreitet, manche harmonisch überraschende Wendung zeigt einen neuen Weg auf. Alpenländisches und slawisches Musikmaterial steht nebeneinander, wird durch rhythmische Überkreuzungen kombiniert und bildet so ineinandergreifend eine stabile Mauer. Das rondoartige Scherzo sticht in seiner Anlage heraus, verdeutlicht jedoch abermals die Verbindung zweier Gegensätze. Thematisch liegt dem ganzen Satz die einfache Volksweise „Die Tiroler sind lustig“ (auch „Kommt ein Vogel geflogen“) zugrunde, die Kendlinger nach allen Regeln der klassischen Variationenkunst auseinandernimmt und in eine strenge, althergebrachte Form gießt. Manch harmonischer Ausbruch, manch neu zusammengebautes Motiv ist Kommentar des Tiroler Komponisten – auch ironisch gebrochen.

Bruch und Verbindung, tiefe Blechbläserklänge und schwirrende Flötentöne, aber auch die Überschreitung formaler Grenzen durch intuitives Weiterdenken im Sinne des Publikums kennzeichnen die Werke Kendlingers. Statt abstrakte Kunstwerke für Analytiker und Musikkritiker zu schaffen, komponiert er unmittelbar für den Hörer. Seine Inspiration speist sich wesentlich aus längerfristigen Gedanken und wird durch unmittelbare Erlebnisse unterstützt, die er in seiner Musik präsentiert und ihnen in dieser abstrahierten Form allgemeine Relevanz verleiht. 

Bruch und Verbindung

All das entsteht gerne nachts im Halbschlaf, ohne Unterbrechung von draußen und allein mit der Natur. So sitzt er in seinem Tiroler „Komponierhäusl“ und lässt die vermeintliche Ruhe auf sich wirken. Aus dieser Stille heraus entwickeln sich kraftvolle Werke, die den Zuhörer aufrütteln und zum Nachdenken bewegen. 

Claudia Seidl (*1990) studierte Jura, Philosophie und historische Musikwissenschaft in Passau und Tübingen. Nach ihrem Berufseinstieg als Lektorin beim Carus-Verlag Stuttgart arbeitet sie nun als Lektorin, Herausgeberin und Autorin für Musikverlage und Festspiele im deutschsprachigen Raum.

Dr. Felix Loy (*1963) studierte Musikwissenschaft und Germanistik in Tübingen. Editor und Redakteur der Neuen Schubert-Gesamtausgabe (Tübingen/Wien). Daneben selbstständig tätig als Herausgeber und Autor für Editionsinstitute (u. a. Beethoven-Haus Bonn; Richard-Strauss-Ausgabe, München) und Musikverlage.

Bio